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  • Autorenbildclaudiahirsch63

Zwischen Omnicron und Ornithologie

Aktualisiert: 26. Juni 2022

Tsunami-artig rollte die neue Corona Welle innerhalb einer Woche von Norden kommend in Auroville ein. Ihren Anfang nahm sie binnen weniger Tage mit vier, fünf, dann achtzehn Volontären im Guesthouse Mitra und siedelte sich von dort rasant in gefühlt der Hälfte aller Aurovillianer an. Die Information, dass Omnicron milde verläuft, hat alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord gehen lassen und bietet meiner Dreifach-Impfung ausreichend Gelegenheit, sich zu bewähren. Indische Arbeiter aus den umliegenden Dörfern können mit Husten und Fieber nicht zu Hause bleiben, weil sie dort nicht bezahlt werden. Guesthouse Betreiber verschweigen Infektionen in ihren Etablissements aus Angst vor einer Quarantäne oder einer Zwangsimpfung und einige Menschen glauben, dass drei Tropfen Teebaumöl auf die Handgelenke getupft alle Krankheiten fernhält. So geschützt setzen sie sich zuversichtlich und unmaskiert mit fiebrigen Augen zu mir an den Teetisch und erzählen stolz, dass sie gestern noch wie tot zu Hause lagen, es heute aber schon wieder ginge.

Auch wenn ich wenig davon mitbekomme - es gibt einen offiziellen Zweistufen-Lockdown:

Stufe 1: Montag bis Samstag mild (was eine Ausgangssperre von 22.00 bis 5.00 Uhr beinhaltet und das Verbot für Volontäre, das Matrimandir zu besuchen).

Stufe 2: an Sonntagen gilt Full-Lockdown (alle Restaurants bieten ihr Essen nur To-Go an und Läden bleiben geschlossen)..


Ungefähr so hat sich das Leben in er ersten Quarantänewoche verändert:



Für den internationalen Tourismus gelten da strengere Regeln. Ein Touristenvisum gilt nicht wie vor Corona 365 Tage, es endet schon nach dreißig. Die ersten sieben davon müssen in Quarantäne verbracht werden, was Indien durch die lange Anreise für Gäste aus dem Westen unattraktiv macht. Für die vom indischen Subkontinent bleibt Auroville aber ein beliebtes Ausflugsziel. Neben Tages- und Wochenendtouristen kommt ein Großteil der Langzeitgäste, um ihr „Homeoffice“ im Grünen einzurichten. Der Lockdown in den Städten hat wie bei uns besonders jungen Menschen mental zugesetzt. Und weil das Volontärleben günstig ist, arbeiten einige der indischen Gäste ein paar Wochenstunden im Matrimandir und sind jetzt meine KollegInnen.. Für mich ist das eine wunderbare Gelegenheit, tiefer in die indische Kultur einzusteigen und was ich lerne, erfüllt mich mit Respekt. Es gibt bestimmt zahlreiche Gründe dafür, warum junge Inder ernster scheinen, als junge Europäer. Einer davon mag die Weltanschauung des Hinduismus sein. Aber ich erlebe bei vielen auch eine Zerrissenheit zwischen alten Traditionen mit engen Familienbindungen auf der einen und dem westlichen Lebensstil, der dank Social Media ihr Leben mitbestimmt, auf der anderen Seite. 70% der Inder, habe ich gelernt, sind arm, mager und haben keinen Zugang zu Bildung. Religion, Kastenwesen, Familie und Nahrungsbeschaffung bestimmen ihr Leben. Die Würde und das Ansehen der Familie stehen über allem und so fallen Geschenke, die zu Jubiläen oder Hochzeiten überreicht werden, oft umso größer aus, je ärmer die Familie ist. Auch wenn diese dafür einen Monat lang von Reis und Bohnen leben oder sich vielleicht sogar verschulden muß. Apropos Reis. Jemand aus dem wohlhabenderen und moderneren Norden äußerte sich lapidar zum indischen Nord-/Süd-Gefälle so: „Den Menschen aus dem Norden und Süden Indiens ist nur eins gemein - der Reis.“


Die indischen Auroville-Besucher gehören zu den restlichen 30%. Sie tragen westliche Kleidung und arbeiten als Jurist, Ingenieur, Biochemiker, Arzt, Manager. Doch auch in dieser Gesellschaftsschicht meldet sich spätestens mit dem 28sten Lebensjahr der elterliche und großelterliche Wunsch nach einer Hochzeit. Einer standesgemäßen, sprich in den eigenen Kreisen, der eigenen Kaste. Viele junge Frauen haben die Möglichkeit, einen Ehemann ihrer Wahl zu finden. Ist da aber grad keiner, übernehmen die Eltern mit Hilfe des Internets oder teuer bezahlten Matchmakern die Suche. Auch um dem elterlichen Druck zu entfliehen, sind viele von ihnen hier. Auroville schmeckt nach Freiheit und Unvoreingenommenheit. Hier, haben sie gehört, wird man so akzeptiert, wie man ist, selbst wenn man sich den Traditionen widersetzt. Von mehr als der Hälfte meiner Kontakte höre ich, dass sie weder heiraten, noch Kinder in diese Welt setzen wollen. Dies ist eine Freiheit, die die jungen Menschen aus den Städten haben mögen, nicht aber die BewohnerInnen aus den Dörfern rund um Auroville. Unverheiratete Frauen bleiben bis zur Eheschließung im elterlichen Haus und leben dort oft wie Haushaltssklavinnen. Für Frauen aus den niederen Kasten fatal, denn mit der Kaste und natürlich auch mit ihrem Aussehen sinkt die Chance auf einen Ehemann, denn der weiß, dass er mit der Zukünftigen auch die arme Verwandtschaft heiratet und für diese aufkommen muß..


Es ist leicht vorstellbar, wie schwierig das Leben wird, wenn der endlich gefundene Ehemann nach drei Monaten feststellt, dass er doch lieber Single wäre oder wenn er nach zehn Jahren glücklicher Ehe diese in eine polyamoröse Beziehung wandeln möchte oder vielleicht sogar der Trunkenheit oder Spielsucht oder der Liebe zu einer anderen Frau anheim fällt. Die moderne Inderin verkraftet so einen Schock über die Zeit hinweg, für die traditionsgebundene Frau scheint das unmöglich und häufig sucht sie den Freitod. Suizid als letzter Ausweg ist weit verbreitet. Im weltweiten Vergleich stammt sogar jede dritte Frau, die Selbstmord begeht, aus Indien. All das passiert zeitgleich in meinem Umfeld und es ist spannend so eng mit den junge Menschen dieser Kultur zu sein, die den lange prophezeiten gesellschaftlichen Umbruch in Indien mitgestalten.


Ich glaube, jetzt habe ich den geschmeidigen Übergang zur Ornithologie verpasst....als ich vor zwei Jahren hier zu Besuch war, habe ich diesen Vogel zu meinem Lieblingsvogel auserkoren und zähle, wann immer ich ihn sehe:




Und zum Schluß das Wetter: tagsüber 29°, leicht bewölkt bis sonnig, nachts Temperaturrückgang auf 21°.


Liebste Grüße und ein wenig indische Sonne schicke ich euch in den Deutschen Winter!


Eure Claudia

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